Es geht um das Leben.
Darum, dass der Mensch
Leben habe in seiner ganzen Fülle.
Unverstellt und frei,
heil und erlöst.
Das ist Gottes Absicht von Anfang an.
„Ich bin gekommen, damit sie
das Leben haben und es in Fülle
haben,“ heißt es späterhin im
Johannesevangelium.
(Joh 10,10)
Das Begehren Gottes zieht sich
durch die Geschichte des
Menschen wie ein roter Faden
hindurch. Es betrifft zunächst
das Volk, das er sich zum
Bundesschluss aussucht:
Israel.
Zuvor jedoch sagt er den Urvätern
seinen Segen zu, gelingendes Leben,
das zum Segen für andere werden soll:
„Ich werde dich zu einem
großen Volk machen, dich segnen
und deinen Namen groß machen.
Ein Segen sollst du sein.
Ich werde segnen, die dich segnen;
wer dich verwünscht, den werde
ich verfluchen.
Durch dich sollen alle
Sippen der Erde Segen
erlangen.“ (Gen 12,1-4)
Gott geht mit
dem Menschen auf Augenhöhe,
lässt sich auf ihn ein, will
der Gott des Menschen
sein, der seine Nähe
zusagt und dass er da
ist, wo immer der Mensch
sich aufhalten mag:
„Jetzt aber - so spricht der HERR,
der dich erschaffen hat, Jakob,
und der dich geformt hat, Israel:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst,
ich habe dich beim Namen gerufen,
du gehörst mir!
Wenn du durchs Wasser schreitest,
bin ich bei dir, wenn durch Ströme,
dann reißen sie dich nicht fort.
Wenn du durchs Feuer gehst,
wirst du nicht versengt,
keine Flamme wird dich
verbrennen.
Denn ich, der HERR, bin dein Gott,
ich, der Heilige Israels, bin dein Retter.
Weil du in meinen Augen teuer
und wertvoll bist und
weil ich dich liebe.“ (Jes 43 1ff)
Die Beziehung Gottes
zum Menschen ist eine
Liebesbeziehung von Anfang
an. Sie findet zu ihrem
Höhepunkt in Jesus Christus:
„Die Liebe Gottes wurde
unter uns dadurch offenbart,
dass Gott seinen einzigen Sohn
in die Welt gesandt hat,
damit wir durch ihn
leben.“ (1 Joh 4,9)
Die Beziehung Gottes
zum Menschen ist bestimmt
von Gefühlen und Haltungen, wie sie
Beziehungen stets zu
eigen sind:
Gott wirbt um sein Gegenüber.
Gott kennt Momente der Eifersucht.
Gott verschließt sich und hält sich verborgen.
Gott zürnt und wütet.
Gott lässt Milde und Erbarmen walten.
Gott gibt die Verbindung nicht auf.
Gott liebt.
So kennt Israel seinen
Gott von Anfang an.
Über die Höhen und
Tiefen der Geschichte
dieses Volkes hinweg
erweist sich Gott als
ein leidenschaftlicher
Gott, der der Gott dieses
Volkes sein will.
„Ich bin der Herr,
dein Gott, der dich aus
Ägyptenland geführt hat,
aus der Knechtschaft.“ (Dtn 5,6)
Und auch das ist die
Absicht des Gottes des
Alten Bundes, dass er sein
Volk in die Freiheit führen
will, heraus aus aller
Knechtschaft, die das
Leben für dieses Volk
bereithält.
Ägypten,
Assur,
Babylon.
Am Ende wartet auf
Israel das verheißene Land.
Sie spüren es.
Immer geht es Gott
um das Leben seines Volkes.
Darum, dass es Leben habe
in seiner ganzen Fülle.
Unverstellt und frei,
heil und erlöst.
Für seinen Weg in dieses
Land und Leben gibt Gott
Israel Gebote, Worte,
Weisungen, 10 an der Zahl.
Sie wollen Orientierung geben.
Sie wollen die Richtung weisen.
Sie sprechen von Werten, die
dem Leben des Volkes
Halt, Kraft, Stärke und Würde
geben sollen.
Durch sie soll das Volk
eine tragende Grundlage
finden.
Es sind Gebote, Worte
und Weisungen, die die Freiheit
schützen wollen, in die Gott
sein Volk geführt hat.
Worte des Lebens.
Sie möchten als Wegweisung
eines gütigen Gottes begriffen werden,
der nicht will, dass die Menschen
sich im Gestrüpp des Lebens
verlaufen.
Sie sind Wegweiser,
die zeigen, auf welchem Weg der Mensch
ans Ziel gelangen und welcher
Weg für ihn der beste ist, damit
das Leben gelingt.
Nicht nur damals.
Auch heute. -
Unsere Welt wird immer
vielfältiger und undurchschaubarer.
Viele unter uns sehnen sich nach
Orientierung. Sie fragen sich,
wie ihr Leben gelingen kann.
Die Zehn Gebote wollen
eine solche Orientierung geben.
Indem sie uns die Richtung weisen,
in die wir gehen sollen, schenken
sie uns die Kraft, uns auf den
Weg zu machen. Nur wer die
Richtung kennt, spürt in sich
mehr Kraft und Motivation
als jemand, der orientierungslos
herumläuft.
Ich will Sie fragen:
Brauchen wir heute in einer
Zeit, in der so viele leere Worte gemacht
werden, nicht vielmehr Worte,
die Klarheit vermitteln, Worte,
die uns eine klare Weisung geben,
wie das Leben gelingen kann?
Und:
Ist nicht die Zeit der Beliebigkeit
vorbei? Hat das Schlagwort „Alles
ist möglich“ nicht schon längst
ausgedient?
Es führt nicht zum Leben,
sondern zur Beliebigkeit.
Die Beliebigkeit aber ist der
Tod der Liebe.
„Die Gebote Gottes
sind Darreichungen Gottes,
Angebote Gottes, die uns
zeigen, wie das Leben
gelingt. Wer sich auf sie
einlässt, der erwacht,
dem öffnen sie die
Augen für das Geheimnis
gelingenden Lebens“,
sagt Anselm Grün.
Die Herausforderung
besteht für uns heute darin,
diese Darreichungen und Angebote Gottes
so zu deuten, dass sie unser Leben und
unser Miteinander in
einer globalisierten Welt
in einer guten Weise regeln
und ermöglichen.
Im Jahre 1993 kamen in Chicago
sechstausend Menschen aus
allen Religionen zum „Parlament
der Weltreligionen“ zusammen,
um eine Erklärung zum Weltethos
zu unterschreiben.
Das Parlament hat eine Selbstverpflichtung
für vier zentrale Bereiche des Zusammenlebens
entfaltet und sich dabei an die Zehn
Gebote aus der Bibel gehalten.
„Verpflichtung auf eine Kultur
der Gewaltlosigkeit und der
Ehrfurcht vor allem Leben. Dies
drückt sich in dem Gebot aus:
Du sollst nicht töten!
Oder positiv: Hab Ehrfurcht
vor dem Leben.
Verpflichtung auf eine Kultur
der Solidarität und eine gerechtere
Wirtschaftsordnung: Du sollst nicht
stehlen! Handle gerecht und fair!
Verpflichtung auf eine Kultur
der Toleranz und ein Leben in
Wahrhaftigkeit: Du sollst nicht
lügen! Rede und Handle wahrhaftig!
Verpflichtung auf eine Kultur
der Gleichberechtigung und der
Partnerschaft von Mann und Frau:
Du sollst Sexualität nicht missbrauchen!
Achtet und liebt einander!“
(vgl. Anselm Grün, Die Zehn Gebote. S. 169)
Wir bräuchten heute
dieses klare Bewusstsein,
dass die Gebote Gottes Wege
zum Leben und in die Freiheit
sind.
Wir werden in unserer
Welt so viel Unklarheiten und
Zweideutigkeiten ausgesetzt,
dass uns die klaren Weisungen
Gottes gut tun würden.
Natürlich wissen wir,
dass wir an diesen Geboten
immer wieder auch scheitern,
genauso wie Israel gescheitert
ist.
Und trotzdem bleiben sie
ein Stachel, der uns immer wieder
daran erinnert, wachsam und bewusst
zu leben, uns nicht leben
zu lassen, sondern entsprechend
der Weisung Gottes zu leben,
damit wir den Weg finden,
der wirklich zum Leben
und in die Freiheit führt,
nicht nur für uns,
sondern für alle
auf dieser Welt.