Diese Ansprache enstand kurz bevor
das Corona-Virus ausgebrochen ist, so dass
sich kein ausdrücklicher Bezug zur augenblicklichen
Situation darin findet. Hierzu verweise ich auf
den Ostergruß.
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Wir feiern
heute das volle Grab.
Die Dunkelheit.
Das „Wo bist du, Gott?“
Die Nacht der Gottverlassenheit.
Dass Gott nicht hilft.
Was ist unsere Religion
für eine merkwürdige Religion.
Wir feiern nicht nur, dass
unser Gott einer der grausamsten
Tode stirbt, den man sich
vorstellen kann, sondern
auch, dass Gott Hilfe ausbleibt.
Das muss man erst einmal
aushalten: das Irritierende
des Glaubens an Jesus.
Der christliche Glaube
fängt mit dem Tod Gottes
an. Mit einem Gott, der
nicht hilft.
Es gibt Tage, da fällt
der Glaube an Gott leicht.
Dann erscheint er als
eine gute Idee.
Doch dann gibt es immer
wieder auch die Momente,
in denen an Gott zu glauben
schwerfällt, Vertrauen
in Frage gestellt wird
und wir uns von einem Gott,
der so ganz anders ist,
herausfordern lassen
müssen.
Die Vorstellung ist allgemein
die: Götter sind stark und
mächtig. Sie können all
das, was wir Menschen
nicht können. Sie sind erhaben,
schön und groß. Sie thronen
über den Dingen.
Der christliche Gott ist
anders. Er lässt sich jämmerlich
ans Kreuz nageln. Und als wäre
das nicht schlimm genug, er
bleibt dort hängen, am Kreuz.
Und in dieser Frage gipfelt
die ganze Szene. Sie spiegelt
die eine Frage wider, die
Menschen sich durch die
Geschichte hindurch immer
wieder gestellt haben:
„Wo bist du Gott?“
„Warum hilft du nicht?“
„Warum schreitest du
nicht dazwischen?“
Genau das ist der Gott,
den wohl jeder gerne hätte.
Den Retter-in-letzter-Minute-Gott.
Denn: Wir alle sehnen uns nach
guten Ausgängen im Leben.
Nach Happyends.
Stattdessen erzählt
der christliche Glaube von
einem Gott, der stirbt und
begraben wird.
Für viele erscheint dies
heute noch genauso
absurd wie damals.
Wer kann einen solchen
Gott gebrauchen?
Wer wünscht sich dagegen
nicht vielmehr einen Gott,
bei dem man sich am besten
alles bestellen kann, was
man sich wünscht?
Einen Gott, der einem
gefälligst den Hintern rettet
und am besten noch einen
Lottogewinn drauflegt?
Dagegen stellt der gekreuzigte
Gott alles auf den Kopf.
Weil er sich hinrichten lässt.
Weil er aussteigt aus der
Rechthaberei, der moralischen
Überlegenheit und Ausgrenzung
anderer und auch aussteigt
aus der Jagd nach
dem vermeintlichen Glück.
Weil Gott stattdessen
„Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?“
ruft.
Weil sein Statement
Dornenkrone statt Dominanz ist.
„Vater vergibt ihnen“
anstelle von allmächtiger
Zurechtweisung.
Aus all dem steigt Jesus
aus und stirbt.
Ganz tief in uns drinnen
sehnen wir uns danach
ganz zu sein, heil, vollständig.
Wir wollen, dass Gott uns rettet.
Doch das klappt so nicht.
Die Realität ist eben,
dass Gott zu vielem auch
schweigt.
Oft genug funktioniert
Gott nicht so, wie wir uns
das vorstellen oder wünschen.
Warum? Weil so ein
Märchen-Onkel-Gott eine
Illusion ist. Eine
Vertröstungsmaschine.
Viele von uns kennen
solche gottverlassenen
Augenblicke. Wenn klar wird,
dass es mit dem Leben nicht
so einfach ist. Wenn etwas
in uns schreit, mein Gott,
mein Gott, warum hast
du mich verlassen?
Wenn wir zu Opfern
geworden sind,
von uns selbst oder
von anderen.
Und Gott scheinbar
nicht helfen möchte.
Das kann sehr erniedrigend
sein und einen dann nur noch
zum Heulen bringen, weil
eben nichts, gar nichts
geschieht, weil das Leben
nicht so funktioniert, wie
gedacht. Wie abgemacht.
Der Tag heute nimmt
uns mit auf diesen dunklen
Weg. Aber die Geschichte
vom Gott am Kreuz ist eben keine
schöne Geschichte. Und der
Moment, in dem er tot in
ein Grab gelegt wird
und den Jüngern nicht
mehr viel bleibt als das
Weite zu suchen, ist nicht
weniger schlimmer.
All das entspricht
der Lebensrealität vieler
Menschen. Das Leben kann
so furchtbar und verstörend
sein. Und das Christentum
lächelt das gerade nicht
weg. Das Christentum
versucht auch den
Karfreitag auszuhalten:
Das Absurde,
Unverständliche
hat im christlichen Gott
Platz.
Wenn Jesus schreit:
„Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?“
macht er zweierlei deutlich:
Den Gott, den wir gerne
hätten, gibt es nicht.
Der Gott, der unser
Glück garantiert ist eine
Erfindung. Der Gott, der noch
in jedem letzten Augenblick
mit dem Finger schnippen
und Legionen von Engeln
vom Himmel schicken wird,
die einen vom Kreuz herunterholen,
ist nicht real. War es nie.
Zum anderen sagt der
christliche Glaube aber auch, dass
Gott gerade da ist, wo er nicht
ist. Denn da hängt er ja, mitten
im „Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?“!
Gott trägt tatsächlich eine
Dornenkrone. Gott ist tatsächlich
nackt. Gott ist tatsächlich gottverlassen.
Und wenn unser eigenes
Leben bricht, so dass wir nur noch
schreien können, schreit Gott
in uns.
Aller Schmerz, den wir verspüren,
ist tatsächlich ein Teil Gottes.
Es gibt keine Gottesferne, weil
Gott auch dort ist, wo er eigentlich
gar nicht sein dürfte. Mitten im
realen Schmerz.
Und um das deutlich zu machen,
stirbt er am Kreuz und lässt sich
in einem Grab verscharren.
Das ist der Gott, an den
Christen glauben – der Anders-Gott.
Der Gott des Karfreitags.
Natürlich ist mir klar,
dass damit nicht alles über
den christlichen Gott gesagt ist.
Auch nicht über das Kreuz.
Und dass Fragen offenbleiben.
Wie sollte es anders sein!
Bei diesem Gott!
Doch dann geht
ein Raunen um.
Ein Flüstern.
Erst zaghaft,
dann immer lauter.
Er sei auferstanden,
vernimmt man.
Der Mann mit der Dornenkrone.
Der nackte, gekreuzigte.
Der, den Gott verlassen hatte.
Das Grab sei leer.
Der Tod habe ihn nicht
halten können.
Der Ort, an dem Gott nicht
ist, das Ende von allem, der Tod, liege
ihm nun zu den durchbohrten
Füßen.
Wenn Gott das Grab nicht
halten konnte, dann ist Gott
vielleicht tatsächlich so anders.
Dann ist das Hamsterrad zerbrochen
und die falschen Götter sind
entlarvt.
Und wo ist Gott jetzt?
Er lebt in uns, die wir uns
an seinen Tod erinnern,
die das Brot brechen, den Wein
trinken – das Zeichen seines
vergossenen Lebens.
Damit nie wieder
vergessen wird, wie anders
Gott ist.
Er lebt in Menschen, die
ihre Kronen gegen Dornenkronen
tauschen, so wie er es vorgemacht
hat.
Er lebt in Menschen, die
sich nackt und verwundet treffen
und ihr Leben teilen, mit allem
Schmerz und aller Freude;
allem Glauben und Zweifeln.
Ohne Oben und Unten,
als Brüder und Schwestern,
die glauben, dass in Gott
für jeden Platz ist, weil
er nichts als Lieblingskinder
hat.
Er lebt in Menschen,
die daran glauben, dass die
Liebe stärker ist als alles,
was die Welt verfinstern
mag, die miteinander das
Licht teilen, das er in sie
gelegt hat und die sich
zuflüstern, was am
Ostermorgen die Runde
macht, als der Stein
plötzlich nicht mehr vor
dem Grab lag:
„Der Herr ist auferstanden!“
„Er ist wahrhaft auferstanden!“
Erst leise, ein Raunen, dann
immer lauter, bis es die
Welt erfüllt.