Ein Prophet, dem
die Tradition den Namen
Johannes gegeben hat,
befindet sich in der Verbannung
auf der Insel Patmos.
Hier verfasst er das
letzte Buch des Neues Testamentes.
Das Buch der Offenbarung.
Eine Trostschrift.
Mit seinen Zeilen will Johannes
den im römischen Reich
unterdrückten Christen
Hoffnung machen.
Seit einigen Sonntagen
schon hören wir Lesungen
aus seiner Schrift. Aus der
Schrift der Heiligen Offenbarung
des Johannes.
Seine Worte sprechen
jedoch nicht nur in die damalige
Zeit hinein. Sie wollen auch uns
erreichen und Trost und Hoffnung
in uns wecken.
Wunderbare Worte wie diese
finden wir in den Schriften
der Offenbarung vor:
Ich Johannes sah einen neuen
Himmel und eine neue Erde …
Ich sah die heilige Stadt,
das neue Jerusalem, von
Gott her aus dem Himmel
herabkommen …
Da hörte ich eine Stimme
vom Thron her rufen:
Seht, die Wohnung Gottes
unter den Menschen! Er wird
in ihrer Mitte wohnen und sie
werden sein Volk sein;
und er, Gott, wird bei ihnen
sein.
Er wird alle Tränen von ihren
Augen abwischen. Der Tod
wird nicht mehr sein, keine Trauer,
keine Klage, keine Mühsal.
Denn was früher war,
ist vergangen.
Er, der auf dem Thron saß,
sprach: Seht, ich mache
alles neu.
Joh 21
Das sind Trostworte,
mit denen man
nicht fertig werden kann
und die nicht auszuschöpfen
sind, weder in ihrer Schönheit
noch in der Kraft ihrer Verheißung.
Und genau dafür sind sie geschrieben,
für die Zeit der Bedrängnis und
auswegloser Not.
Ein Kommentar zu den Schriften
des Johannes meint:
Wer mit ihnen nichts
anfangen kann, sollte sie beiseite
legen und sich ihrer erinnern,
wenn er sie nötig hat.
Viele bezeichnen Johannes
als einen Menschen mit
Visionen. Er sieht die Dinge
voraus, die sich jetzt schon
abzeichnen, immer wieder,
einmal mehr und einmal
weniger offensichtlich.
Der frühere Bundeskanzler
Helmut Schmitt sagte einmal
über die Visionen seines Parteikollegen
Willi Brandt im Bundestagswahlkampf
1980:
Wer Visionen hat, sollte
zum Arzt gehen.
Ich frage mich:
Ist nicht vielmehr das
Gegenteil der Fall, dass derjenige,
der keine Visionen hat, einmal
innehalten und sich darüber
Gedanken machen sollte:
Wer er ist?
Was seinem innersten
Wesen entspricht?
Welche Spur er in diese
Welt eingraben möchte?
Wohin sein Leben zielen
soll?
Menschen brauchen Visionen.
Sie sind so unerlässlich, wie
die Sterne am Himmel, die
der Karawane in der Wüste
den Weg weisen.
Visionen orientieren nicht
nur. Sie motivieren auch.
Sei setzen in Bewegung und
verlocken zum Handeln.
Antoine de St. Exupery
sagt:
Willst du, dass Leute ein
Schiff bauen, dann gib ihnen
nicht Baupläne und Baumaterial,
sondern wecke in ihnen die
Sehnsucht nach dem weiten
Meer.
Der Seher von Patmos
gibt den Menschen keine
Baupläne in die Hand.
Er entwirft ein Bild davon,
wie es sein wird, wenn das
Reich Gottes in seiner ganzen
Blühte ersteht. Und mit
dem Bild lässt er Sehnsüchte
in den Seelen der Menschen
entstehen.
Menschen weinen nicht
mehr, weil sich ihre eigene
inneren Zerrissenheit
und auch vielen Widersprüche
in dieser Welt aufgelöst
haben.
Der Tod wird nicht mehr
die Frage nach dem Sinn des
Lebens aufwerfen, weil es
ihn einfach nicht mehr
gibt und damit auch all
das nicht mehr, was
uns Menschen oftmals
so leblos macht und
wie tot erscheinen lässt.
Kein Mensch wird mehr
Grund zur Trauer oder zur
Klage haben müssen.
Die unzähligen Verletzungen,
die das Leben einem Menschen
zugefügt hat, werden geheilt
sein, Menschen miteinander
versöhnt und Frieden unter
ihnen erfahrbar.
Gottes Absicht ist es,
etwas ganz Neues entstehen
zu lassen.
Menschen brauchen Visionen.
Haben Sie Ihre Lebensvision
bereits gefunden:
Wissen Sie, wer Sie sind?
Was entspricht Ihrem
inneren Wesen?
Welche Spur möchten
Sie in dieser Welt
eingraben?
Wohin soll Ihr
Leben zielen?
Diese Fragen stellen
sich immer wieder neu.
Sie suchen nach einer
Antwort. Sie suchen
nach unserer ganz
eigenen Antwort.
Dass jede Firma eine
Vision braucht, lesen wir
in allen Führungsbüchern.
Ohne Vision geht gar nichts –
wenn es eine gute Vision
ist.
Auch die Kirche braucht
eine gute Vision. Heute mehr
denn je. Zumindest sollte
sie sich ihrer Vision neu
bewusst werden, denn
die Vision ist schon lange
gesetzt.
Visionen haben auch
eine kritische Kraft in
sich. Sie lassen erkennen,
ob ich auf dem Weg oder
auf einem Abweg oder
Irrweg bin.
Visionen stören das
Eingespielte, das Etablierte,
das Gewohnte.
Sie stören auch jene, die
in einer Organisation
das Sagen haben.
Leider sind es im
Augenblick keine Visionen,
die so vieles in der Kirche
in Frage stellen, vielmehr
doch sehr irritierende
und verletzende und
demütigende Verfälle,
die am Gewohnten
und Festgefahrenen
rütteln.
Günter Kunert
hat ein Gedicht geschrieben.
Es trägt den Titel „Für
mehr als mich.“
Ich bin ein Sucher
eines Weges
zu allem was mehr
ist als
Stoffwechsel,
Blutkreislauf,
Nahrungsaufnahme,
Zellenzerfall.
Ich bin ein Sucher
eines Weges
der breiter ist
als ich.
Nicht zu schmal.
Kein Ein-Mann-Weg.
Aber auch keine
staubige, tausendmal
überlaufene Bahn.
Ich bin ein Sucher
eines Weges.
Sucher eines Weges
für mehr als mich.
Kirche ist
kein Selbstzweck.
Kirche ist für mehr als
sich da. Sie ist für
den Menschen da.
Sollte es zumindest
sein.
Alles, was sie tut
und alles, was sie nicht
tut, sollte dem Menschen
dienen und einem
Leben in Fülle,
wie es der Vision,
die Christus der Kirche
selbst ins Herz eingepflanzt
hat, entspricht.
Alles andere geht
in die falsche Richtung
und pervertiert die
grundlegende Berufung:
Selbstherrlichkeit,
Machtstreben,
Patriarchalismus,
Monarchismus,
Frauenfeindlichkeit,
erstickende, hierarchische Strukturen,
sexueller Missbrauch,
geistlicher Missbrauch
…
Eine Krise kann auch
immer die Chance zu einem
Neuanfang sein, wenn sie
denn genutzt wird.
Einem Neuanfang muss eine
Vision zugrunde liegen.
Eine gute Vision.
Johannes zeigt
eine solche in seinem
Buch auf. Wir haben sie
vorhin gehört:
Ein Engel zeigte mir
die heilige Stadt Jerusalem,
wie sie von Gott her aus dem
Himmel herabkam, erfüllt
von der Herrlichkeit Gottes.
…
Die Stadt hat eine große
und hohe Mauer mit zwölf Toren
und zwölf Engeln darauf.
…
Die Mauer der Stadt hat
zwölf Grundsteine, auf ihnen
stehen die zwölf Namen
der Apostel des Lammes.
Einen Tempel sah ich nicht
in der Stadt. Denn der Herr,
ihr Gott, der Herrscher über
die ganze Schöpfung, ist
ihr Tempel, er und das
Lamm.
Die Stadt braucht weder
Sonne noch Mond,
die ihr leuchten.
Denn die Herrlichkeit
Gottes erleuchtet sie
und ihre Leuchte
ist das Lamm.
In weniger als
20 Jahren wird unsere
Kirche eine andere sein
als heute.
Zur Wandlung
und Veränderung muss
sie bereit sein, wenn
Gott immer mehr in
ihrer Mitte zu wohnen
kommen soll und
seine Herrlichkeit
zum Leuchten.
Am Ende wird es
diese Kirche nicht mehr
geben, weil sie niemand
mehr brauchen wird,
weil dann Gott alles
in allem sein wird.
Wir befinden uns
auf dem Weg, auf dem
das Loslassen von alten
Bildern, Haltungen und
Vorstellungen und
Strukturen eine
entscheidende
Rolle spielen
wird.
Nicht nur die Kirche
als Ganze wird dazu
herausgefordert
sein, auch jede noch
so kleine Gemeinde,
wird es lernen müssen,
über ihren Schatten
zu springen und
Wandlung zuzulassen,
damit Gott immer
mehr in ihrer Mitte
wohnen kann.
Auch das alttestamentliche
Buch Joel hält eine Vision
bereit. Dort ist zu lesen:
Ich werde meinen Geist
ausgießen über alles Fleisch.
Eure Söhne und Töchter
werden Propheten sein,
eure Alten werden Träume haben
und eure jungen Männer
haben Visionen.
Joel 3,1
Ich wünsche uns
und meiner Kirche
den Mut zum Träumen.
In Träumen zeichnen
sich wesentliche
Wahrheiten ab.
Noch mehr
wünsche ich uns
und meiner Kirche,
die Gabe, die Vision
wieder ins Auge zu
nehmen, die Christus
ihr ins Herz gelegt
hat und durch sie
inspiriert, immer mehr
den Absichten Gottes
zu entsprechen.
Ich glaube,
dann wird alles
gut. Dann kann
Wandlung gelingen;
eine wesentliche Veränderung
wie sie schon lange durch
das Zweite Vatikanische
Konzil gedacht gewesen
ist.
Dann wird Gott tatsächlich
alles in allem sein und
der Mensch Abbild
seiner Herrlichkeit.