Hat er nichts anderes zu tun,
als den Leuten dabei zuzusehen,
wie sie ihre Opfergabe den
Priestern im Tempel geben?
Ziemlich neugierig.
Meinen Sie nicht auch?
Was geht es ihn an,
was die anderen in die
Opferstöcke werfen?
Eigentlich doch gar
nichts.
Oder etwa doch?
Ich lade Sie ein,
in Gedanken einmal neben
Jesus Platz zu nehmen
und dem Treiben im Tempel
zuzusehen. Schauen Sie sich
um. Schauen Sie sich das
Innere des Tempels an.
Schauen Sie sich die Leute an, die
den Tempel betreten.
Machen Sie es wie Jesus.
Lassen Sie alles auf
sich wirken.
Möglicherweise tut es Ihnen
gut, ihre Augen hierfür
zu schließen. Lassen Sie
die Bilder vor Ihrem inneren
Auge entstehen. Steigen Sie
so mit mir in die Geschichte
ein.
Was sehen Sie?
Wen sehen Sie?
Was hören Sie?
Wen hören Sie?
Möglicherweise Menschen.
Ganz verschiedene Menschen.
Menschen wie Sie und ich.
Menschen mit ihren ganz eigenen
Anliegen und Sorgen,
Fragen und Ungelöstheiten
ihres Lebens.
Unter ihnen welche
mit langen Gewändern.
Wichtigtuer. So zumindest
meint es das Evangelium.
Zu ihnen gehören zweifelsohne
die Gruppen der Schriftgelehrten,
der Gesetzeslehrer, der Pharisäer.
Vor Gott gib es keine Ausnahmen.
Jeder von ihnen findet im Tempel seinen
Platz. Letztere am Liebsten auf
den vorderen Sitzen.
Zugegeben, es sind
nicht alle so. Da gibt
es auch Ausnahmen.
Wie so oft.
Gehen Sie im Tempel umher.
Schauen Sie sich alles in
Ruhe einmal an. Gibt
es irgendwelche Impulse,
die Sie im Umhergehen
empfangen? Regungen,
die Sie spüren?
Sie entdecken Jesus.
Mitten unter den Menschen.
Sein Blick ist auf den
Opferstock gerichtet.
Beenden Sie Ihren Rundgang
und setzen Sie sich wieder
neben ihn.
Aus seiner Perspektive
betrachtet sehen Sie eine Frau.
Witwe ist sie. So viel
verrät das Evangelium.
Sehen Sie selbst
möglicherweise mehr?
Wie geht diese Frau?
Wie ist sie gekleidet?
Können Sie ihre Gesichtszüge
erkennen? Ihre Hände?
Ihre Augen? Ihre Haltung?
Witwen im damaligen Palästina
sind arm dran. Sie haben keine
Witwenrente. Sie leben von
der Hand in den Mund.
Es kommt jedoch noch schlimmer:
Es gibt welche, die machen
sich ihre Situation zu eigen
und nutzen sie schamlos
aus.
„Sie bringen Witwen um
ihre Häuser und verrichten
in ihrer Scheinheiligkeit
lange Gebete.“
Spüren Sie möglicherweise
Wut und Zorn in Ihrem Herzen
über solche Zustände?
Hat sich Ihrer Meinung
nach an solchen oder
ähnlichen Missständen
im Rahmen religiöser Institutionen
und gesellschaftlicher Wirklichkeiten
je wirklich etwas geändert?
Wo spüren Sie heute
Wut und Zorn,
Enttäuschung und Schmerz,
wenn Sie an die Kirche
denken?
„Sie bringen Witwen um
ihre Häuser und verrichten
in ihrer Scheinheiligkeit
lange Gebete.“
Viele machen Ihren
Regungen Luft. In den
zurückliegenden Wochen
kommen immer wieder
Austrittserklärungen
von Gemeindemitgliedern
auf meinen Schreibtisch.
Intrige,
Korruption, Lüge
und Missbrauch an heiligen
Orten sind für sie gerade dort nicht
länger mehr auszuhalten.
Die Wahrheit möge
endlich ans Licht
kommen.
Ob man seine Stimme
hören möchte: „Ich bin
die Wahrheit, das Leben,
der Weg“?
Das setze eine Umkehr
im Ganzen voraus.
Einen Neubeginn.
Für alle.
Mit allen.
„Sie bringen Witwen um
ihre Häuser und verrichten
in ihrer Scheinheiligkeit
lange Gebete.“
Wie lange noch?
Ich schäme mich fremd.
Schon lange.
Sie bemerken es vielleicht.
Wir haben die Ebene des
Evangeliums verlassen.
Es geht schon längst nicht
mehr um die Witwe im
Tempel. Es geht um Dich.
Es geht um mich. Es geht
um Menschen, die in ihrer
Existenz in Frage gestellt
werden von Institutionen
und Einzelnen.
Doch zurück in den Tempel.
Sie sehen die Frau wie
sie sich dem Priester nähert,
der ihre Gabe in Empfang
nimmt. Zwei kleine Münzen.
Nichts im Vergleich zu dem,
was andere in den Opferstock
werfen.
Für die Frau jedoch
ihre Existenzgrundlage,
alles, was sie geben kann,
nicht wissend, was am
nächsten Tag auf sie
zukommen wird.
Jesus steht auf.
Er ergreift das Wort.
Diese Frau, von vielen
möglicherweise gar nicht
erst wahrgenommen,
nimmt er zum Lehrbeispiel.
Zu einem Beispiel
für wahres Leben.
„Diese arme Witwe hat
mehr in den Opferkasten
hineingeworfen als alle
anderen.“
Warum, eigentlich?
Wieso, eigentlich?
Weil es hier nicht
mehr ums Geld geht,
sondern um eine
Lebenseinstellung.
Ich will sie einmal
so beschreiben:
Es ist die Hingabe dessen,
was das ganz eigene und
persönliche Leben ausmacht,
die wahrhaft zählt.
Die Frau hat sich selbst gegeben.
Aufgegeben. Hingegeben.
Vergeben. Das ist mehr
wert als zwei Münzen es
je sein können.
Mir fallen hierbei die
Worte des Dichters
Joachim Ringelnatz
ein:
„Schenke herzlich und
frei, schenke ohne List,
sei eingedenkt, dass
dein Geschenk du
selber bist.“
Können Sie für sich
aus dem bisher Gesagten einen
ganz eigenen und persönlichen
Impuls für ihr Leben
entnehmen?
Möglicherweise diesen:
In der Begegnung zwischen
Menschen ist immer der
ganze Mensch gefordert.
Es kommt dabei nicht auf
Berechnung an, sondern
auf die Offenheit des
Herzens, das bereit ist,
den anderen aufzunehmen,
anzunehmen, zu lieben.
Nichts anderes gilt
für die Begegnung mit
Gott. Auch hier geht es
um ein vorbehaltloses,
ganzheitliches, vertrauensvolles
Hingeben des Menschen an ihn.
Gott schaut auf die Absicht
des Herzens und nicht auf
zwei Münzen. Was er selbst
uns Menschen durch den Tod
seines Sohnes erwirkt hat,
wäre niemals durch dreißig
Silberstücke aufzuwiegen
gewesen.
Gott gibt stets alles.
Zuallererst sich selbst.
Das macht seinen Wesenszug
aus.
Zu einer ganz eignen
und persönlichen
Hingabe an den anderen
lädt er jeden von uns ein.
Was hieraus erwachsen
kann, allein das ist von
Bedeutung und einem
unschätzbaren Wert.
Die Hingabe an den anderen
kann zu einer wahren
Gottesbegegnung
werden.
So zumindest verstehe
ich die Legende des Heiligen
Martins, dessen Gedenktag
wir heute feiern.
Lassen Sie uns unseren
Aufenthalt im Tempel
beenden. Verlassen Sie
mit mir diesen Ort, der
so viele Gedanken und
Eindrücke wachzurufen
vermochte.
Was regt sich gerade
in Ihrem Herzen?
Welche Anstöße haben
Sie bekommen?
In welche Richtung würden
Sie gerne weiterdenken
wollen?
Worüber würden Sie
sich gerne noch mit
einem anderen Menschen
austauschen wollen?
Und schließlich:
Was sind Sie selbst bereit,
von sich zu geben? Etwas,
das mit Münzen niemals
aufzuwiegen wäre,
das Sie aber anderen
Menschen und Gott
selbst ein ganzes Stück
näherbringt?