Ein jüdisches Sprichwort sagt:
„Das Geheimnis der Erlösung
heißt Erinnerung.“
Gemeint ist damit, dass,
wer aus der Geschichte
nichts lernt, dazu verdammt sei,
sie zu wiederholen. Wer sich
dagegen an fatale Fehler oder
gefährliche Fallen erinnert,
kann sie eher vermeiden.
„Das Geheimnis der Erlösung
heißt Erinnerung.“
Die Erinnerung
an Kriege, Genozide und
Vernichtungslager
soll wachgehalten werden.
Nicht allen schmeckt das.
Manche Menschen reagieren
auf eine solche Erinnerungskultur
geradezu allergisch. Wenn etwa
das Stichwort „Auschwitz“ fällt,
dann wehren sie ab:
„Das ist doch schon lange her.
Lasst uns das endlich vergessen!“
Doch ein solches Vergessen
kann gefährlich werden.
Aus dem Kreislauf des immer
Gleichen kann man sich nur
lösen, wenn man aus Fehlern
lernt. Wer sich an solche
erinnert, schaut mit einem
kritischen Blick auf die
Entwicklungen der Gegenwart.
Er wird sich einer Wiederholung
der Vergangenheit wachsamer
entgegenstellen.
Erinnerung an die Geschichte
kann zur Erlösung beitragen.
Die Erinnerung spielt
auch in der Gottesbeziehung
eine zentrale Rolle.
In seinen Gottesdiensten
und Festen erinnert sich
das Volk Israel der Versprechen
und der Zusagen seines Gottes:
Ich gedenke meines Volkes.
Ich vergesse meine Menschen nicht.
Ich denke an meinen Bund, den ich
Abraham und seinen Nachkommen
versprochen habe.
Der Name jedes Menschen
bleibt in meine Hand geschrieben,
so dass ich ihn stets vor Augen habe. -
Allerdings darf der Mensch
nie vergessen, dass er von mir
nicht vergessen wird.
In und durch die Feier
des Paschamahles erinnert
sich das jüdische Volk
an seinen Gott.
Mehr noch:
In und durch die Feier
wird diese Erfahrung Gottes
wieder aktuell. Gegenwärtig.
Alle jüdischen Feste machen
die Feiernden zu Zeitgenossen
der rettenden Taten Gottes.
Die in der Vergangenheit erlangte
Freiheit lebt in den Herzen der
Menschen wieder auf und fort.
In der Paschafeier wird
die Nacht gegenwärtig,
in der das Volk aus Ägypten
zieht. Die Erinnerung an diesen
Auszug entfaltet eine Sprengkraft,
die eine vergangene Geschichte
sich hier und heute wieder
ereignen lässt und dadurch
die Zukunft des Menschen
gestaltet.
„Deshalb sind wir verpflichtet,
dem zu danken, den zu preisen,
zu loben, zu verherrlichen,
zu erhöhen, der an uns und
unseren Vätern all diese Wunder
getan hat. Er hat uns herausgeführt
aus der Gefangenschaft in die Freiheit,
aus dem Kummer in die Freude,
aus der Trauer ins Fest, aus
der Finsternis in großes Licht
und aus der Knechtschaft
in die Erlösung.“
So heißt es in den Anweisungen
für die Feier des Paschafestes,
der Mischna.
Die Befreiung des Volkes
Israel ereignet sich immer wieder
aufs Neue. Das Paschafest ist
mehr als eine bloße Erinnerung.
Es betrifft den heutigen Menschen
essentiell reißt ihn heraus
aus alten Wegen und stellt
ihn auf einen neuen Weg.
Den Weg Gottes mit
dem Menschen.
„Das Geheimnis der Erlösung
heißt Erinnerung.“
Erinnerung ereignet sich auch
in der Feier der Eucharistie,
Sonntag für Sonntag,
Gottesdienst für Gottesdienst.
Immer dann, wenn wir dieses
zentrale Ereignis miteinander begehen,
sollen wir mitgerissen werden,
in die neue Welt, in die neue
Gestalt von Leben, die uns
durch Christi Tod und Auferstehung
eröffnet worden ist.
Die Eucharistie ist eine einzige
große Erinnerungsfeier. Wir erinnern
uns an Jesu Leben, Tod und Auferstehung.
„Tut dies zu meinem Gedächtnis“,
sagt Jesus zu seinen Jüngern beim
letzten Mahl mit ihnen in der
Nacht vor seinem Tod.
Mit anderen Worten:
Vergesst mich nicht.
Denkt an meine Liebe.
Erinnert euch an meine Worte.
Haltet fest an meinen Zusagen.
Für uns Christen werden
Jesus und seine Liebe
zu uns Menschen in jeder
Feier real präsent.
„Das ist heute“, heißt es
in der Liturgie heute Abend.
Heute ist Christus anwesend.
Jetzt ist er da, mitten unter
uns. Immer und überall dort,
wo sich Menschen im Gebet an
Jesus erinnern, das Brot
brechen und einander reichen
und den Kelch mit Wein,
seinem Blut, wird er
gegenwärtig, lebendig
und wirksam.
„Das Geheimnis der Erlösung
heißt Erinnerung.“
Mit unserer Liturgie
betreiben wir keine Denkmalpflege.
Vielmehr soll die Beziehung
zu Christus neu in uns aufleben.
Wer dies vergisst, verliert den
Kontakt zur Quelle des Lebens
und der eigenen Lebendigkeit.
Die Eucharistie ist das Andenken
an die große Liebe gegen
den Gedächtnisschwund.
Dieses Andenken trägt die Spuren
einer unendlichen Zukunft in sich.
Das Andenken enthält zugleich
das Versprechen von Ewigkeit.
Wer an Christi Tod und Auferstehung
sich erinnern lässt, dessen Herz
wird mit neuer Hoffnung
auf ein neues Leben erfüllt
und mit der festen und verlässlichen
Zusage: „Auch ihr werdet leben!“
„Es sei das Teilen dieses Brotes
und Bechers die Herzensstärkung,
dass wir hoffnungsvoll zusammen
wirken, dass die Welt entsteht,
wo Brot und Recht und Würde ist
und Liebe für alles, was das lebt“,
schreibt Huub Oosterhuis.
Liebe Gemeinde:
Das Geheimnis unserer Erlösung
bleibt die Erinnerung an Jesu Leben,
Tod und Auferstehung, weil sie
die Grundlage für mehr Leben
bedeutet, einem Leben in Fülle.