„Ich habe so etwas
niemals gesehen.
Ein Meer aus Menschen,
Dantes Inferno, überall Blut.
Wir gehen über Leichen,
wir rutschen aus im Blut“
So hat der Polizeiarzt
und Chefmediziner der
französischen Elite-Such
und Eingreifbrigade,
den Schrecken beschrieben,
beim Vordringen in
den Konzertsaal Bataclan
in Paris.
Viele Menschen, die
das Massaker miterlebten,
sind traumatisiert.
Selbst Unbeteiligte, die
sich nur in der Nähe
der Anschläge aufhielten,
haben nach wie vor
ihre Probleme,
das Ganze zu verarbeiten.
Jedoch nicht nur
die direkt Betroffenen,
viele Menschen auch außerhalb
Frankreichs sind heftig erschüttert
und beunruhigt, ob sich ein
derartiges Grauen nicht
jederzeit überall wiederholen
kann.
Nein, das vergehende
Jahr lässt viele von uns
nicht gerade mit versöhnlichen
und beruhigenden Eindrücken
zurück.
Auch die Bilder von
unzähligen Flüchtlingen,
die aus Angst vor Terror
und Krieg, aus Verzweiflung
und Hoffnungslosigkeit
an unsere Tür klopfen,
haben ihre Spuren
tief in unserem Bewusstsein
hinterlassen.
Zudem scheinen
die Weltmächte sich immer
mehr in Spannungen
zu verstricken. Es gibt
Menschen, die haben
sogar Angst
vor einem dritten
Weltkrieg.
„Die Welt ist aus den
Fugen geraten“, stellt
der Schriftsteller und Journalist
Peter Scholl-Latour in einem
seiner letzten Bücher vor
seinem Tod fest.
Nichts ist mehr so,
wie es einmal war.
Das bringt Unsicherheit
hervor. Das macht Angst.
Das lässt den ein oder
anderen unter uns
nahezu verzweifeln.
Weil er nichts dagegen
zu setzen hat. Weil er sich
dem Gefühl der Ohnmacht und
des Ausgeliefertseins nicht
entziehen kann. Weil er
feststellen muss, dass der
Hass, der ihm entgegenschlägt,
auch in ihm einen ganz
eigenen Platz besitzt.
Aggression erzeugt sehr
oft Gegenaggression.
Diese Feststellung
kann beschämend sein.
Diese Unsicherheit
nehmen wir sicherlich auch
in das vor uns liegende Jahr
mit. Wir können sie nicht
abstreifen, wie ein
schmutziges Hemd.
Wir haben sie zu tragen
Wir haben sie auszuhalten.
Sie einfach wegzureden,
das geht nicht.
Wenn alles aus den Fugen
zu geraten scheint;
wenn wir von den Veränderungen,
die sich in dieser Welt unter
Menschen zutragen, selbst
in unserer eigenen Existenz
so sehr betroffen und angefragt sind,
wie lässt sich dann, das Leben
aushalten?
Wie können wir es bestehen,
ohne an seinem Sinn zu zweifeln
und ohne die Freude an diesem
Leben und auch die Dankbarkeit
für dieses Lebens und all
seine schönen Augenblicke
zu verlieren?
Denn diese gibt es ja
zudem auch noch.
Sie wollen nicht
verdrängt werden.
Sie wollen wahrgenommen,
gesehen, gefeiert
und miteinander geteilt
werden,
so wie viele Augenblicke
in unserem ganz eigenen
Leben in dem zurückliegenden
Jahr auch.
Eine sehr eindrucksvolle
und mich zutiefst bewegende
Antwort enthält für mich der
öffentliche Brief
des französischen Journalisten
Antoine Leiris, der seine junge
Frau bei dem Massaker in Paris
verlor und mit einem 17 Monate
alten Kind allein zurückbleibt.
Es lohnt sich diese Zeilen
in ihrer Gänze zu hören:
„Ihr bekommt
meinen Hass nicht.
Freitagabend habt ihr das Leben
eines außerordentlichen Wesens geraubt,
das der Liebe meines Lebens,
der Mutter meines Kindes,
aber ihr bekommt meinen
Hass nicht.
Ich weiß nicht, wer ihr sei
und ich will es nicht wissen,
ihr seid tote Seelen.
Wenn dieser Gott,
für den ihr blind tötet,
uns nach seinem Bild geschaffen hat,
dann muss jede Kugel,
die meine Frau getroffen hat,
ein Wunde in sein Herz gerissen haben.
Nein, ich werde euch
nicht das Geschenk machen,
euch zu hassen.
Auch wenn ihr euch sehr
darum bemüht habt;
auf den Hass mit Wut zu antworten
würde bedeuten, derselben Ignoranz
nachzugeben, die euch zu dem gemacht
hat, was ihr seid.
Ihr wollt, dass ich Angst habe,
dass ich meine Mitbürger mit
einem misstrauischen Blick
betrachte, dass ich meine Freiheit
der Sicherheit opfere.
Verloren.
Der Spiele ist noch im Spiel.
…
Selbstverständlich frisst mich
der Kummer auf, diesen kleinen
Sieg gestehe ich euch zu,
aber er wird von kurzer Dauer sein.
Ich weiß, dass sie uns jeden Tag begleiten
wird und dass wir uns wieder in jenem
Paradies der freien Seelen wiedersehen
werden, zu denen ihr niemals Zutritt
erhalten werdet.
Wir sind zwei,
mein Sohn und ich,
aber wir sind stärkte
als alle Armeen dieser Erde.
Ich will euch jetzt keine Zeit
mehr opfern, ich muss mich
um Melvil kümmern,
der gerade von seinem
Mittagsschlaf aufwacht.
Er ist gerade 17 Monate alt:
Er wird seinen Brei essen
wie jeden Tag, dann werden
wir gemeinsam spielen
wie jeden Tag und sein ganzes
Leben wird dieser kleine Junge
euch beleidigen,
indem er glücklich und
frei ist.
Denn, nein, auch seinen
Hass werdet ihr nicht bekommen.“
Noch einmal meine Frage:
Wenn alles aus den Fugen
zu geraten scheint;
wenn wir von den Veränderungen,
die sich in dieser Welt unter
Menschen zutragen, selbst
in unserer eigenen Existenz
so sehr betroffen und angefragt sind,
wie lässt sich dann, das Leben
aushalten?
Wie können wir es bestehen,
ohne an seinem Sinn zu zweifeln
und ohne die Freude an diesem
Leben und auch die Dankbarkeit
für dieses Lebens und all
seine schönen Augenblicke
zu verlieren?
Die Zeilen des Briefes
scheinen in jede Lebenslage,
und sei sie noch so intim
und persönlich, hineinzusprechen
und hierfür Wesentliches
hervorzuheben:
Die Welt ist nicht heil.
Die Welt ist besetzt von
der Macht des Bösen.
Und mehr als einmal
werden wir zu Opfern.
Das ist so.
Dieser Tatsache können
wir uns nur
schwerlich entziehen.
Wir leben immerzu in dieser
Ambivalenz zwischen
Gut und Böse.
Schon und Noch nicht.
Heil und Unheil.
Dabei gilt es,
den Blick, so schwer es
manchmal auch sein mag,
auf das Schöne und Gute
nicht zu verlieren;
Platz für die Wunder
des Lebens zu lassen,
denn auch sie wollen
weiterhin geschehen;
Platz für die Begegnung
zu lassen, denn alles
wirkliche Leben ist
Begegnung.
Platz für die Liebe
zu lassen, denn auch sie
will sich weiterhin unter
Menschen ereignen.
Die Liebe aber,
kennt keinen Hass.
Ja, sie leidet unter ihm.
Aber sie vergilt ihn
nicht mit Hass.
In der Tat:
Auf Hass mit Wut
zu antworten,
würde bedeuten,
derselben Ignoranz nachzugeben,
die andere zu dem gemacht hat,
was sie sind.
Zugegeben, das ist eine
große Herausforderung.
Wenn nicht sogar, die
Herausforderung.
Eine Kunst, in
der wir uns immer mehr
zu üben haben.
Die Kunst zu lieben.
Aller Sinn des Lebens
besteht in der Fähigkeit,
einander zu lieben,
einander anzunehmen
und uns umeinander zu
kümmern, „wenn wir von
dem Mittagsschlaf
erwachen“.
Wenn wir aus Liebe handeln,
kommt die Hoffnung leibhaftig
in die Welt.
Warum?
Weil wir durch unser Handeln
zeigen, dass wir die Welt
verändern können und
dass es möglich ist,
die Welt zu einem besseren
Ort zu verwandeln;
weil wir Gutes aussäen
und die Saat des Guten aufgeht;
weil wir andere daran
erinnern, dass wir Menschen
nicht nur aus den Wurzeln
von Gier und Selbstsucht
und Angst handeln können,
sondern aus innerer Kraft
und Güte;
weil wir schließlich,
wenn wir Gutes tun, unser
Gottvertrauen ausdrücken
können, unser Vertrauen,
dass Gott unser Tun
segnet und begleitet.
Phil Bosmanns hat
vor Jahren ein Buch geschrieben,
das den Titel trägt:
„Vergiss die Freude nicht!“
Auch darauf käme es an:
Uns nicht beleidigen zu lassen
von den Widersprüchen dieses Lebens
und dieser Welt,
und uns immer wieder
zu öffnen für jeden kleinen Grund zur Freude
und uns unsere Freiheit und Unabhängigkeit
gegenüber allem Lebensbedrohenden
zu bewahren.
Wir dürfen uns nicht
ängstigen lassen.
Zumindest nicht so sehr,
dass unser ganzes Leben
in Frage gestellt wird und wir
wie gelähmt sind.
Wir brauchen uns nicht
ängstigen zu lassen!
Den Grund dafür hat
Gott selber gelegt.
Er hat ihn in Jesus Christus
gesetzt.
Er hat Licht in die Dunkelheit
unserer Ängste
und der vielen Fragwürdigkeiten
und Widersprüchlichkeiten
unserer Welt gebracht.
Er selbst hat die Angst,
die Unsicherheit und den Tod
besiegt und schenkt uns
allen Anteil an diesem Sieg.
Wir sind erlöst und sollte
schon heute so leben.
Immer wieder.
Immer mehr.
„Was bleibt zu alldem
noch zu sagen?“ fragt Paulus.
„Gott selbst ist für uns,
wer will sich dann
gegen uns stellen?
Er hat seinen eigenen Sohn
nicht verschont, sondern hat
ihn für uns alle in den Tod gegeben.
Wenn er uns aber den Sohn geschenkt hat,
wird er uns dann noch
irgendetwas vorenthalten?
Wer kann die Menschen anklagen,
die Gott erwählt hat?
Gott selbst spricht sie frei.
Wer kann sie verurteilen?
Christus ist für sie gestorben,
ja noch mehr:
Er ist vom Tod erweckt
worden.
Er hat seinen Platz an
Gottes rechter Seite.
Dort tritt er für uns ein.
Kann uns noch irgendetwas
von Christus und seiner Liebe trennen?
Etwa Leiden, Angst und Verfolgung,
Hunger oder Kälte, Gefahren für Leib
und Leben oder gar die Hinrichtung?
Es ergeht uns wirklich so,
wie es in den Heiligen Schriften steht:
„Weil wir zu dir, Herr, gehören,
sind wir ständig in Todesgefahr.
Wir werden angesehen wie Schafe,
die zum Schlachten bestimmt sind.“
Aber mitten in alldem triumphieren
wir als Sieger mit Hilfe dessen,
der uns so sehr geliebt hat.“
Und dies ist mein Wunsch
für uns in diesem kommenden
Jahr:
„Keinen Tag soll es geben,
da wir sagen müssen:
Niemand ist das, der uns die Hände
reicht.
Keinen Tag soll es geben,
da wir sagen müssen:
Niemand ist da, der mit
mir Wege geht.
Keinen Tag soll es geben,
da wie sagen müssen:
Niemand ist da, der mich
mit Kraft erfüllt.
Keinen Tag soll es geben,
da wir sagen müssen:
Niemand ist da, der mir
die Hoffnung stärkt.
Keinen Tag soll es geben,
da wie sagen müssen:
Niemand ist da, der mich
mit Geist beseelt.
Keinen Tag soll es geben,
da wie sagen müssen:
Niemand ist da, der mir
das Leben schenkt.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere
Vernunft, der halte unseren
Verstand wach und unsere
Hoffnung groß
und stärke unsere Liebe.“