LK 18,9-14
Da steht er,
in der vordersten Reihe,
damit man ihn ja nicht
übersieht,
den Frommen,
den Gottgefälligen,
den Gesetzestreuen,
den Pharisäer.
Für ihn scheint die Welt
in Ordnung zu sein.
Er hält sich an die Gebote.
Er verrichtet seine Gebete.
Er gibt sein Opfer.
Was will es mehr?
Was braucht es mehr?
Seine Rettung scheint
gesichert zu sein.
„Gott ich danke dir,
dass ich nicht wie die
anderen Menschen bin.“
Und da ist der andere,
ganz im Hintergrund,
im Dunkel des Raumes,
der sich nicht nach vorne
zu gehen getraut,
weil er ganz genau weiß,
dass er nicht vollkommen ist,
dass manches in seinem Leben
nicht stimmig ist,
dass er mit vielem
einfach im Hintertreffen bleibt,
aus welchen Gründen
auch immer.
Wie sieht es mit
seiner Rettung aus?
„Schlecht“
würde der Pharisäer
auf diese Frage zur Antwort
geben.
„Was will so einer
schon von Gott erwarten?
Er hält sich nicht an die Ordnung.
Er tut, was zu tun verboten ist.
Er gibt sich mit der Besatzungsmacht ab,
mehr noch: Er steht in deren Diensten.
Zöllner von Römers Gnaden ist er.
Ein Verlorener, ein Halsabschneider
und Betrüger dazu.“
Als ob der Mann im Dunkel
der Synagoge dies nicht
selber wüsste.
Er kennt seine Unvollkommenheiten.
Er weiß um seine Grenzen.
Und er scheint sich zu schämen,
weil er sich sonst wohl auf keinen Fall
versteckt halten würde.
Was unterscheidet
die beiden voneinander?
Der Unterschied liegt darin,
wie sich beide wahrnehmen.
Die Psychologie spricht von
einem „blinden Fleck“,
wenn ein Mensch sich anders
wahrnimmt, als die Menschen
um ihn herum ihn wahrnehmen,
wenn er keinen Zugang zu ganz
bestimmten Anteilen
seiner Person haben will,
diese verdrängt oder
gar vollkommen ausblendet,
eben blind wird für
diese Seite an ihm.
Blinder Fleck.
Der Pharisäer ist blind
für seine Eitelkeit und Arroganz,
für seine Überheblichkeit
und seinen Stolz,
für seine Vorurteile
und seine Verachtung
anderen gegenüber.
Er ist blind für das Unfertige,
Unvollkommene und Lückenhafte
an seiner Person.
Stattdessen überträgt
er diese Anteile auf die anderen:
Räuber, Betrüger, Ehebrecher, Zöllner.
Die Psychologie spricht von Projektion.
Kann sich so einer wirklich
seiner Rettung sicher sein?
Wo soll Gott bei ihm ansetzen
wollen? Gibt es da wirklich
noch einen Platz für Gottes Gnade
und Wirken an ihm?
Wohl eher nicht!
„Wer sich selbst erhöht,
wird erniedrigt.“
Anders scheint es
bei dem Zöllner zu sein.
Er kennt sich.
Er weiß um sich.
Er hält sich zurück.
Ohne Grund eigentlich.
Übt Gott nicht gerade
einem Menschen wie ihm
gegenüber Nachsicht?
Schenkt Gott nicht gerade
einem Menschen wie ihm
sein Erbarmen und
seine Barmherzigkeit?
„Abgewandt
von den Eitelkeiten ringsum
mit gesenktem Blick
die Augen des Herzens
weit offen für den
der mich sieht und
die leeren Hände
mit seinem Erbarmen
füllt.“ Charis Doepgen
Das Schwache hat Gott sich erwählt,
um es groß zu machen und stark.
Dem Niedrigen erbarmt er sich,
um ihn zu erheben aus dem Staub
und dem Dreck und ihm
ein Ansehen zu geben.
Die Würfel sind
schon längst gefallen:
Dieser Mann hat in Gottes Augen
Gefallen gefunden.
Seine wirkliche Rettung
ist nur noch eine Frage der Zeit.
Gott hat schon längst an ihm
zu wirken begonnen.
Die Offenheit des Mannes
seiner dunklen Seiten gegenüber
verschafft Gott Zugang zu seiner Seele,
um sie zu heilen.
„Wer sich aber selbst erniedrigt,
wird erhöht werden.“
In Psalm 139 lese ich:
„Herr, du hast mich erforscht,
und du kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe,
es ist dir bekannt,
du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe,
es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit
all meinen Wegen.“
Es gibt keinen Grund,
sich vor Gott zu verstecken.
Es gibt keinen Grund wehleidig zu sein,
wenn es um die Schwächen
und Grenzen der eigenen
Person geht.
Gott weiß um mich.
Er kennt mein Inneres.
Er sieht, was mich bewegt,
was mich antreibt und
mich auch manchmal
die falsche Richtung
einschlagen lässt.
Wichtig ist nur,
dass ich es erkenne
und den blinden Fleck
in der eigenen Wahrnehmung
meiner Persönlichkeit
anzunehmen bereit bin.
Der Psychologe C.G. Jung
meint einmal, dass man nur
das wandeln kann,
was man angenommen hat.
Die Theologie meint,
dass die Gnade Gottes
die Natur des Menschen
voraussetzt.
Gottes Wirken setzt also
beim Menschen an,
so wie er ist und nicht wie er,
der Mensch, gerne sein möchte.
Gott nimmt mich an.
Einfach so.
Ohne Wenn und Aber.
Ohne Bedingungen.
Ohne Vorleistungen.
Einfach wegen nix!
Aus Liebe und weil er barmherzig ist.
„Gott ist dem zerbrochenen
Herzen nah“, sagt der Psalm 34.
Diese Sicht der Dinge
wirft auch ein ganz neues Licht
auf den Auftrag der Kirche,
den diese in der Welt von
heute zu erfüllen hat.
Auf ihre Mission.
Der Papst hat ein Jahr
der Barmherzigkeit ausgerufen.
Geht es nach ihm,
muss die Kirche zu den Menschen
hingehen, die Verwundeten pflegen
und sich ihrer annehmen,
wie auch Gott sich ihrer
angenommen hat.
Als Kirche haben
wir keine andere Wahl,
wenn Gott selber nicht müde wird,
jene, die im Dunkeln stehen
ins Licht zu rufen.
Warum verkomplizieren wir,
was so einfach ist?
Jesus hat uns mit seinen Worten
und Taten diesen Weg der Anerkennung
des anderen gewiesen.
Warum verdunkeln wir oft, was so klar ist?
Warum sorgen wir uns oft nur darum,
nicht in lehrmäßige Irrtümer zu fallen
und nicht vielmehr darum,
wie wir als Kirche dem Weg Jesu
wirklich treu bleiben können?
Verbirgt sich dahinter nicht die Tendenz,
dass wir uns für allzu gerecht halten,
uns über die anderen erheben
und über sie urteilen?
Wir wären dabei keinen Schritt weiter,
als der Pharisäer in der ersten Reihe,
auf keinen Fall auch nur ein
kleines bisschen besser.
Auf die Frage eines Journalisten,
ob man Katholiken, die geschieden sind
und die wieder geheiratet haben,
nicht doch zu den Sakramenten
zulassen könne,
antwortet Franziskus:
„Die Barmherzigkeit ist größer
als jener Fall, den Sie vorstellen.
Ich glaube, dass dies die Zeit
der Barmherzigkeit ist.“
Gott ist barmherzig,
warum wollen wir so
hartherzig bleiben?
Gott ist großherzig,
warum wollen wir so
kleinherzig bleiben?
Gott ist weitherzig,
warum wollen wir so
engherzig bleiben?
Wenn wir es denn wirklich
ernst mit dem Glauben an
den Gott Jesu Christi meinen,
dann gibt es wahrlich keinen Grund,
der uns davon abhalten könnte,
barmherzig zu einander zu sein
oder uns voreinander groß
aufzublasen und
als die vermeintlich Besseren
darzustellen.
Es gäbe auch keinen Grund mehr,
den blinden Fleck in der Wahrnehmung
der Institution Kirche weiterhin
zu pflegen.
Mehr noch:
Der Pharisäer in uns allen
hätte ausgespielt.
Denn:
„Der Herr ist barmherzig und gnädig,
langmütig und reich an Güte …
Er handelt an uns nicht nach
unseren Sünden und vergilt
uns nicht nach unsrer Schuld.
Denn so hoch der Himmel
über der Erde ist,
so hoch ist seine Huld über denen,
die ihn fürchten.
Soweit der Aufgang entfernt
ist vom Untergang,
so weit entfernt er die Schuld von uns.
Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der Herr über alle,
die ihn fürchten.“ (Psalm 103)