Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Nelly Sachs, eine Jüdin,
die den Holocaust überlebte
beginnt mit diesen Worten
eines ihrer Gedichte.
Alles beginnt mit der Sehnsucht …
In der Tat.
Schon das Baby
schreit nach Nahrung.
Schon das Kind
bittet stumm mit großen Augen
um Zuwendung, Aufmerksamkeit,
um körperliche Nähe,
kurz: um Liebe.
Und das wird sich
bis zum Lebensende
eines Menschen
nicht mehr ändern.
Keiner von uns ist sich selbst genug.
Aufeinander sind wir verwiesen,
aufeinander angewiesen,
sehnend und
uns ausstreckend nach allem,
was uns Glück verspricht.
Nelly Sachs meint:
Das ist des Menschen
Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille,
nach Freundschaft
und Liebe.
In der Tat:
Anerkennung,
Wertschätzung,
Zuneigung,
Freundschaft,
Liebe –
danach sehnt sich der Mensch.
Es gibt wohl
niemanden unter uns,
der ohne solche Erfahrungen
glücklich und seines Lebens
wirklich froh werden könnte.
Und auch das scheint
mir bedenkenswert im Hinblick
auf uns Menschen:
… immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres…
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Wann immer
wir ein Ziel erreichen;
wie viele Wünsche
auch immer sich uns erfüllen,
und wäre es das Größte,
das die Erde zu bieten hat –
es wäre zu wenig,
es würde unsere Sehnsucht
nie restlos stillen.
In allem, was diese
Welt zu bieten hat,
ist zu wenig, als dass
der Mensch darin wirklich
und tatsächlich
seine Erfüllung finden
könnte.
Diese Tatsache
wirft ein ganz anderes
Licht auf unser Leben.
Vor allem auf das,
was nach diesem Leben
zu erwarten ist.
Diese Tatsache nämlich
besagt nichts anderes als,
dass diese Sehnsucht,
mit der alles beginnt
und die unser Leben
bis zu seinem Tod
begleitet, nur etwas,
nein, vielmehr jemand,
erfüllen kann, der jenseits
des irdisch Erreichbaren
ist.
All unsere Sehnsucht,
ob wir es uns eingestehen wollen
oder nicht, ist immer auch
die Sehnsucht nach Gott.
Gott selbst ist dieses
Mehr, das wir spüren.
Nach Gott selber greifen
wir aus voller Sehnsucht,
wenn wir spüren,
dass es nicht ausreicht,
dass wir uns nicht zufrieden geben wollen,
dass wir nicht satt sind,
dass wir immer noch dürsten,
dass nichts in der Welt
diesen Hunger unserer Seele
zu stillen vermag.
Der Kirchenlehrer Augustinus
meint: „Unruhig sei unser Herz
bis es ruhe in Gott.“
Jesus meint zu der Frau
am Brunnen: „Wer von dem
Wasser, das ich ihm geben werde
trinken wird,
wird niemals mehr Durst haben.“
Nelly Sachs hebt in ihrem
Gedicht noch einen
anderen Aspekt
hervor.
Sie spricht
von einer
ganz anderen Sehnsucht.
Der Sehnsucht Gottes
nach dem Menschen.
Fing nicht auch
Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht
nach dem Menschen an?
Kann das sein?
Wie soll das gehen?
Ist das nicht zu weit gedacht?
Von zu weit hergeholt?
Viel zu verwegen?
Mitnichten!
Gott sehnt sich
auch nach dem Menschen.
Nicht, dass er uns brauchen
würde.
Sein Sehnen ist ein Sehnen
in Liebe und nicht ein Sehnen
aufgrund einer
eigenen Bedürftigkeit.
Gott sehnt sich
nach Dir,
nach mir,
nach jedem einzelnen
von uns.
Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Es kommt auch vor,
dass Menschen
ihre Sehnsucht ins
Verkehrte wenden.
Dass sie ihre eigentliche und tiefste
Sehnsucht verdrängen und diese
zu beruhigen versuchen,
indem sie sie auf kurzen Wegen,
durch das schnelle,
durch das käufliche,
durch das machbare Glück
zu finden meinen.
An die Stelle der Sehnsucht
tritt nicht selten die Sucht.
Unterhaltungssucht,
Kaufsucht,
Arbeitssucht,
Esssucht,
Magersucht,
Tablettensucht,
Genusssucht.
Zum Schluss bleibt
eine gähnende,
durch nichts auszufüllende
Leere.
Und auch das kommt vor,
dass Menschen überhaupt
keine Sehnsucht mehr verspüren.
Nicht die sind zu bedauern,
deren Sehnsüchte nicht in Erfüllung
gehen, sondern diejenigen,
die keine mehr haben.
Wer nichts ersehnt,
ist tot.
Gerade dort,
wo sich der Mensch
süchtig,
unfrei,
träge
und leer erfährt,
ist er eingeladen, mit der
Sehnsucht in Berührung zu kommen,
die tiefer liegt,
die tiefer reicht,
die auf dem Boden seiner
Seele ruht.
Wie viele Menschen
sind gar nicht mehr in
einem echten Kontakt
mit sich selbst?
Wie viele Menschen
wissen überhaupt nicht darum,
wohin ihr Herz wirklich
zielt und was sie tatsächlich
von ihrem Leben wollen?
Wie viele Menschen
wissen nicht, wonach sie
sich sehnen sollen?
Dann tut es gut,
in die Tiefe des Herzens
hinabzusteigen,
um wieder mit sich selbst,
um wieder mit ihrem Ursprung,
um wieder mit ihrer Sehnsucht
in Berührung zu kommen.
In dieser Tiefe
wird der Mensch dann
auch wieder in Berührung mit
Gott kommen können.
Da werden sich Himmel
und Erde, Gott und Mensch
tatsächlich einander wieder
berühren können.
Und mit einem Mal
darf ganz klar werden,
wohin die Sehnsucht
wirklich zielt.
Die Sehnsucht des Menschen
und die Sehnsucht Gottes.