„Liebet einander,
wie ich euch geliebt habe.“
Das ist ein Wort.
Aber was für ein Wort?
Ein Befehl?
Einander lieben –
das geht nicht auf Befehl.
Es steckt mehr dahinter,
die Worte deuten es an:
„Liebet einander wie ich euch geliebt habe.“
Das also steht dahinter.
Er steht dahinter.
Das Entscheidende im Leben
können wir uns nicht selbst geben.
Dass wir absolut geliebt und angenommen sind,
trotz unserer Grenzen
und auch über unseren Tod hinaus,
das ist nicht zu machen.
Das können wir uns nicht einreden.
Das können wir uns nur sagen lassen von dem,
der über den Dingen steht und über der Welt,
von dem der selbst Schuld und Tod überragt.
Genau das aber ist geschehen.
Dafür steht sein Name. Jesus Christus.
In ihm hat Gott uns angenommen.
Ein Geschenk des Himmels also.
Ein Geschenk, das unser Leben verändert.
Wissen wir nicht allzu gut, was es bedeutet,
ob ein Kind von den Eltern angenommen
und geliebt ist oder nicht?
Das ist lebensentscheidend.
Das ist wie ein Vorzeichen vor der Klammer.
Das betrifft das Ganze.
Eine vielleicht bekannte Fabel
erzählt von zwei Vögeln.
Der eine liegt auf dem Boden,
die Beine starr gegen den Himmel gestreckt.
Der andere Vogel fliegt vorbei, sieht das
und fragt verwundert:
„Was ist denn mit dir los?
Warum liegst du auf dem Rücken
und streckst die Beine so starr nach oben?“
Der antwortet:
„Ich trage den Himmel mit meinen Füßen.
Wenn ich sie zurückziehe,
dann stürzt der Himmel ein.“
In diesem Augenblick löst sich in der Nähe
ein Blatt von einem Baum
und fällt leise zu Boden.
Erschrocken dreht sich der Vogel um
und fliegt - so schnell er kann - davon.
Und der Himmel?
Nun, der Himmel blieb an seinem Platz.
Ist es nicht ein himmelweiter Unterschied,
ob man sich geliebt und getragen weiß
oder nicht?
Wenn nicht, dann bildet man sich ein,
man müsse sich selbst und die Welt
und den ganzen Himmel tragen,
und schließlich erschrickt man vor einem Blatt
zu Tode und nimmt Reißaus.
Wer weiß, dass der Himmel hält,
der kann getrost durchs Leben gehen,
der ist dann auch ganz frei in seinem Element.
Wir alle sind getragen.
Wir sind angenommen.
Lange bevor uns eine Mahnung
oder gar ein Befehl erreicht,
dürfen wir uns das sagen und gesagt sein lassen:
Du bist geliebt.
Du bist angenommen.
Jeder von uns kann sich das sagen lassen
- und es ist gut, dass er das tut,
dass er diese Wahrheit tief in sich hineinlässt.
Ich bin angenommen!
Wert und Anerkennung
muss ich mir nicht selbst verschaffen.
Ich brauche sie mir nicht von anderen
zu erbetteln
oder zu erzwingen.
Nein. Sie sind mir von Gott geschenkt.
Ihm bin ich trotz meiner Grenzen
und Unzulänglichkeiten
liebenswert genug.
Und darum darf ich der sein, der ich bin.
Ich brauche anderen und schon gar nicht
mir selbst etwas vorzumachen.
Ich darf mich annehmen, ohne rot zu werden,
ohne Wehleidigkeit und Selbstmitleid.
Denn: Ich bin von Gott geliebt.
Das ist das Erste
und das Wichtigste.
Alles andere und alles weitere
kommt von dorther.
Als so von Gott Geliebte
können auch wir einander lieben.
Als so von Gott Getragene
können auch wir einander ertragen.
Sollten es zumindest doch.
Einander:
Einer den anderen also.
Dieser andere, der hier gemeint ist,
kann ganz dicht neben mir leben,
unter dem gleichen Dach,
in derselben Familie,
hautnah eben.
Für die Kinder können das die Eltern sein
und für die Eltern die Kinder.
Dieser andere kann viele Namen haben.
Sie werden jedem von uns schon einfallen,
wenn er den Ruf nur tief genug in sich eindringen lässt,
bis dorthin eben, wo die Entscheidungen fallen,
ob ich die Hand zur Faust balle
oder zum Frieden meine Hand öffne.
Eines steht dabei fest:
Mit geballter Faust kann ich niemanden lieben.
Liebet einander.
Dazu braucht man gar nicht viele Dinge.
Die Hand muss offen und leer sein
und das Herz voll.
Vielleicht sind unsere Hände mit
viel zu vielen Dingen besetzt,
und dann überschütten wir den anderen
mit allen möglichen Sachen
und halten ihn uns buchstäblich vom Leibe,
statt dass wir ihn mit unseren leeren Händen
einfach in den Arm nehmen.
Statt dass wir ihm einmal zuhören,
ihn trösten und ein gutes Wort für ihn haben.
Statt dass wir ihm vertrauen und verzeihen,
ihn loben und anerkennen können.
Statt dass wir ihm einfach einmal sagen:
Es ist gut, dass du da bist.
„Liebet einander.“
Das ist weiß Gott etwas anderes als:
Seid nett zu einander.
Die Worte deuten es an:
„Liebet einander,
wie ich euch geliebt habe.“
Was hier gemeint ist verdeutlicht
eine Kreuzesdarstellung,
die ich einmal in einer Kirche in Würzburg sah:
An einem Kreuz hängt Jesus.
Aber er breitet nicht wie gewohnt die beiden Arme
der Länge des Querbalkens entlang aus.
Nein.
Die Hände haben sich vom Kreuz gelöst.
Sie sind offen und leer.
Und finden vor dem Korpus zueinander
- fast wie eine Krone, wie eine Dornenkrone.
Kreuz und Dornenkrone –
so sehr hat er uns geliebt.
Er hat sich gebeugt unter die Last der anderen,
unter unsere Last.
Er hat den letzten Menschen
nicht die kalte Schulter gezeigt,
sondern sie auf die Schultern genommen.
Er hat sie getragen.
Er hat sie ertragen.
Er hat sie geliebt.
Das Evangelium sagt:
„Gott hat die Welt so sehr geliebt,
dass er seinen einzigen Sohn dahingab ...,
damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ (Joh 3,16)
Wir sind von Gott bejaht,
im Namen Jesu Christi.
Wie können wir uns da noch
länger untereinander verneinen!
In einem Gedanken
von Irmela Mies-Suermann
heißt es:
„Ich will dich lieben Gott,
meinen Nächsten auch,
den Nahen und den Fremden.
Die Bibel ist voll von dem,
was ich tun soll,
warum heißt es nicht,
du darfst Gott lieben
und deinen Nächsten
und dich selbst.
Es ist ein Geschenk für mich,
wenn ich lieben kann,
mein Leben wird erfüllter,
wird lebenswert.“
Wir sind von Gott geliebt.
Darum liebt einander.
(vgl. auch Franz Kamphaus)